28.07.2023
Wir blicken ins Jahr 2035: Wie steht es um die Europäische Union? Wird die EU als eigenständiger, handlungsfähiger Akteur gestärkt sein? Wachsen die Staaten und Gesellschaften weiter zusammen oder sind die nationalistischen Fliehkräfte stärker? Wie steht es um die wirtschaftliche Innovationskraft? Gibt es eine gemeinsame außenpolitische Strategie? 

Auf all das haben wir keine Antwort, schließlich ist es unmöglich, die Zukunft vorherzusagen. Mit der Szenario-Methode können wir uns aber möglichen alternativen Entwicklungen annähern, diese bewerten und daraus Empfehlungen für strategische Entscheidungen ableiten –  ob in der Politik, in der Zivilgesellschaft, oder im Unternehmen. Das Reizvolle an der Methode ist dabei die Mischung aus Analyse und Kreativität: Szenarien bieten einen Rahmen für strukturiertes Nachdenken über und Planen für die Zukunft, ohne dabei in die Falle zu tappen, zu sehr in der Gegenwart verhaftet zu bleiben. 

Es soll uns schließlich nicht so ergehen wie der britischen Times, die angesichts der Unmengen von Pferdemist auf Londons Straßen während der sog. „Großen Pferdemist-Krise“ von 1894 prophezeite, dass in 50 Jahren die Straßen unter 3 Metern Mist begraben würden. Oder Thomas Watson, dem Chef von IBM, der 1943 einen Weltmarkt für „vielleicht 5 Computer“ erwartete. Oder der Autor dieser Zeilen, der 1995 voraussagte, dass "E-Mail sich nicht durchsetzen wird". Was haben diese Vorhersagen gemeinsam? Sie schreiben die aktuelle Entwicklung einfach weiter in die Zukunft, ohne in Betracht zu ziehen, dass sich wesentliche Annahmen ändern können. 

Bei planpolitik haben wir die Szenario-Methode auf ganz unterschiedliche Themen angewendet: Bei Workshops zur Zukunft der EU, zur europäischen Nachbarschaft, zum Verhältnis zwischen EU und Russland, zur Rolle der Zivilgesellschaft in Belarus, zu Migration und Integration in Deutschland, zur globalen Systemkonkurrenz (siehe Bild), sowie im eigenen Hause auf die Zukunft unserer digitalen Angebote währende der Pandemie. 

Doch wie gehen wir eigentlich vor bei unseren Szenario-Werkstätten? Unsere besondere Stärke liegt in der passgenauen Entwicklung des richtigen Projektzuschnitts mit Blick auf Zielgruppe und Zielsetzung. Insofern sind die nachfolgend beschriebenen Schritte eine Blaupause, die immer an den konkreten Einsatz angepasst wird. Und dies verbinden wir natürlich wie immer mit einer offenen, flexiblen und an den Bedürfnissen der Teilnehmenden orientierten Moderation. Doch der Reihe nach, zum Nachmachen und Ausprobieren empfohlen…

Bestimmung der Einflussfaktoren


  1. What you need: Nicht viel. Ob, und welche Art der Szenarienplanung sich für eine bestimmte Frage eignet, hängt hauptsächlich von der Fragestellung ab. Denn für die Nutzung der Methode gibt es an sich keine Grenzen, da sie sehr flexibel an die Umstände und die Zielgruppe angepasst werden kann. Bei planpolitik haben wir die Methode sowohl in mehrtägigen Seminaren mit Dutzenden Teilnehmer*innen als auch im kleineren Rahmen – etwa als Impuls für eine Reflektionsgruppe – eingesetzt, und das stets mit großem Erfolg.
  2. Fragestellung und Zeitrahmen: Sind beide zu weit gefasst („Was ist die Zukunft der westlichen Welt in 2050?“), sind die Szenarien zu beliebig, die Einflussfaktoren kaum zu bestimmen. Eine klar definierte Fragestellung ist besser: „Wie sieht das transatlantische Verhältnis in 10 Jahren aus?“; „Welche Marktposition hat mein Unternehmen in 5 Jahren?“, „Was ist die Zukunft der digitalen Bildung in Schulen in Deutschland in 15 Jahren?“). Auch der Zeitrahmen ist wichtig: Ist er zu eng, ergeben sich keine Spielräume für alternative Entwicklungen, ist er zu weit, leidet die Relevanz für das Hier und Jetzt. Für politische und gesellschaftliche Fragen können 10-20 Jahre in die Zukunft gut funktionieren, für Strategieentscheidungen in der Organisation können auch mal 2-5 Jahre sinnvoll sein. 
  3. Einflussfaktoren: Das Festlegen der sog. driving forces ist für uns oft der spannendste Teil einer Szenario-Entwicklung. Insbesondere bei Gruppen mit diversen Perspektiven, Kompetenzen und Kenntnissen ergeben sich spannende Diskussionen darüber, welche Einflussfaktoren für die jeweilige Frage besonders wichtig sind. Zunächst gilt es möglichst viel und breit zu sammeln. Um den Blick zu weiten, verwenden wir oft das sog. STEEP-Modell: social, technological, environmental, economic, and political. Zu diesen Kategorien sammeln wir alle denkbaren Einflussfaktoren und priorisieren erst im Anschluss. 
  4. Wichtigste Unsicherheiten: Die sog. critical uncertainties sind die Faktoren, die die Gruppe für besonders wirkmächtig und gleichzeitig besonders ungewiss hält. Warum? Einflussfaktoren mit geringer Wirkung sind nicht relevant; Faktoren, die gut vorhersehbar sind, sind wiederum weniger ergiebig für die Generierung alternativer Zukunftsbilder. Mit dieser Entscheidung wird üblicherweise intensiv gerungen und es wird viel diskutiert, schließlich geht es hier um die Grundlage für die anstehende Szenarienarbeit. 
  5. Szenarien: Aus der Kombination der vier möglichen Ausprägungen der zwei ausgewählten Einflussfaktoren ergeben sich dann die vier Szenarien. Und dann, Durchatmen – und los geht‘s! Während zuvor das Analytische die Oberhand hatte, kommt nun mehr Kreativität ins Spiel. In Kleingruppen werden die Szenarien ausgearbeitet, in der Regel mit dem sog. Backtracking: Erst wird das Zukunftsbild entsprechend der Annahmen dieses Szenarios entworfen, um anschließend zu beschreiben, wie es dazu kommen konnte und an welchen Ereignissen zu erkennen ist, dass dieses Szenario eintrifft. Ein Feuerwerk an Ereignissen, Entwicklungen, (verpassten) Möglichkeiten, Gewinner*innen und Verlierer*innen wird skizzenhaft in eine logische Abfolge gebracht. 
  6. Interpretation: Nach der gegenseitigen Präsentation der Szenarien gilt es nun, die Ergebnisse zu interpretieren. Was bedeuten die Szenarien für die Politik, für den Arbeitskontext der Teilnehmenden, für meine Organisation, etc. Schließlich gilt es, nicht nur auf ein mögliches Szenario vorbereitet sein, sondern auf alle Szenarien, die grundsätzlich vorstellbar und plausibel erscheinen. Dazu gehört sowohl, Empfehlungen zu erarbeiten, wie mit den dargestellten Unsicherheiten umzugehen ist und welche Weichenstellungen heute schon getroffen werden müssen.
  7. Verstetigung: Um die Szenarien danach auch für die weitere strategische Arbeit in der eigenen Organisation/im eigenen Unternehmen nutzbar zu machen ist es außerdem sinnvoll, die Indikatoren zu identifizieren, an denen in Zukunft zu erkennen sein wird, welches der Szenarien tatsächlich eintrifft. So können die Szenarien in die weitere strategische Arbeit eingebunden werden und ihr Potenzial als wichtige Ergänzung für das Monitoring und die Evaluierung aktueller Ereignisse voll entfalten.

Entwicklung der Szenarien


Und was ist nun die Zukunft der EU? Das wissen wir immer noch nicht, aber zumindest wissen wir jetzt besser, auf welche Entwicklungen wir ein besonderes Augenmerk legen müssen und wovon die Zukunft abhängt. Neben Offensichtlichem wie Wahlergebnissen auf der anderen Seite des Atlantiks oder in bestimmten europäischen Mitgliedsstaaten, wurde in den Workshop viel über wirtschaftliche Faktoren gesprochen, über Innovationsfähigkeit, Forschungskooperationen, aber auch über Migrationsbewegungen, soziale Entwicklungen in den Mitgliedsstaaten und die Rolle der EU als Mediator*in in globalen Konflikten.

Konnten wir Sie ein wenig für die Methode begeistern? Probieren Sie es doch einfach mal aus. Und schreiben Sie uns gerne von Ihren Erfahrungen oder Fragen. Vielleicht ergibt sich daraus ja ein zweiter Werkstattbericht.

Sehr gerne dürfen Sie uns natürlich für eine kompetente Vorbereitung, Begleitung und Moderation Ihres Szenario-Prozesses anfragen – am einfachsten über anfragen@planpolitik.de

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